Interview: Die Debatte um Fake-Inhalte gehört von Anfang an zu Social Media dazu

Interview

Wissenschaft und Web 2.0? Diese Kombination ist für praxisorientierte Social Media Profis immer noch weitgehend Terra incognita. medienmilch.de schlägt Brücken und interviewt Dr. Jan-Hinrik Schmidt, wissenschaftlicher Referent für Digitale Interaktive Medien und Politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung, zur Neuauflage seines Buches „Das neue Netz":

Sie schreiben im Vorwort zur 2. Auflage ihres Buches "Das neue Netz - Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0", dass sie für einen kurzen Moment gezweifelt haben, ob der Titel des erstmals 2009 erschienenen Werkes noch passend ist. Was sind die wichtigsten Veränderungen in diesen zwei Jahren gewesen?

Jan-Hinrik Schmidt:
Das ist schwer in wenigen Sätzen zusammenzufassen... Zum einen haben sich viele der wichtigsten Angebote des Web 2.0 in den letzten Jahren weiter etabliert, wenn auch nicht auf gleich hohem Niveau. Die Wikipedia und YouTube sind inzwischen wahrlich "Mainstream", und Facebook hat seit 2009 den deutschsprachigen Markt der Netzwerkplattformen deutlich aufgerollt. Blogs und Twitter sind demgegenüber eher Nische, haben sich dort allerdings komfortabel eingerichtet und sind aus der Gesamtlage der Social-Web-Angebote auch nicht weg zu denken. Zum anderen hat damit einhergehend in den letzten Jahren eine "Normalisierung" des Web 2.0 in vielen gesellschaftlichen Bereichen stattgefunden, von der Politik über das Marketing bis hin zu bürgerschaftlicher Kommunikation. Auch wenn hier vielerorts noch experimentiert wird, mal besser, mal schlechter, kommt man wohl um den grundlegenden Strukturwandel von Kommunikation, den das Social Web mit sich bringt, nicht mehr herum.

Sie sprechen im Buch von drei Handlungskomponenten der Social-Web-Praktiken: dem Identitätsmanagement, dem Beziehungsmanagement und dem Informationsmanagement. Können sie diese unseren Lesern bitte kurz praxisnah erklären?

Jan-Hinrik Schmidt:
Die drei Begriffe sind in der Tat recht abstrakte soziologische Begriffe für das, was Menschen mit den Plattformen und Werkzeugen des Social Web (aber nicht nur dort) tun. Etwas griffiger ausgedrückt: Das Social Web beeinflusst die Art und Weise, wie wir uns selbst bzw. Facetten unserer Person präsentieren, wie wir bestehende Beziehungen pflegen und neue Beziehungen knüpfen, und wie wir uns in der Welt orientieren. Es ist aber letztlich eine analytische Trennung, die in der konkreten Nutzung des Social Web verschwimmen kann.
Ein Beispiel: Wenn ich beim YouTube-Video eines Bekannten mit "Daumen hoch" votiere, drücke ich erstens auch meine eigenen persönlichen Vorlieben aus, betreibe also Identitätsmanagement. Zweitens gebe ich dadurch der anderen Person zu erkennen, dass ich wertschätze, was sie hochgeladen hat, betreibe also Beziehungsmanagement. Und drittens kann mein "Daumen hoch" in
Kombination mit gleichen Urteilen einer Vielzahl anderer Nutzer dazu führen, dass dieses Video in Ranglisten o.ä. auftaucht - meine einzelne Stimme trägt also zum Filtern und Zuweisen von Relevanz oder Popularität bei, ist also Ausdruck von Informationsmanagement.

Welche Rolle spielt Authenzität beim Identitätsmanagement? Oder anders gefragt: Verändern kommerzielle Fake-Social-Media-Angebote die Web 2.0 Kultur?

Jan-Hinrik Schmidt :
Die Debatte um Fake-Inhalte gehört von Anfang an zu Social Media dazu, manche sagen sogar, das Web 2.0 sei erst durch fabrizierte Marketing-Kommunikation so groß geworden. Dies ist paradox, da
Authentizität ja einen unglaublich hohen Stellenwert in den Blogs oder auf Netzwerkplattformen besitzt, wo sich "echte Menschen", keine professionell ausgebildeten Kommunikatoren begegnen. Aus Sicht von Unternehmen sind diese Räume sehr reizvoll, um die eigenen Produkte und (Werbe-) Botschaften zu platzieren - und was liegt da näher, als etwas nachzuhelfen und virale Begeisterung durch selbst losgetretenes Lob zu beschleunigen? Dennoch untergraben solche inauthentischen Profile oder Konversationen das Vertrauen in aufrichtige und wahrhaftige Kommunikation, das viele Plattformen trägt. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Nutzer selbst immer wieder Fälle von "Astroturfing" oder Fake Accounts in viralen Kampagnen anprangern, denn es handelt sich um Täuschung und Verletzung einer Leiterwartung in diesen Kommunikationsräumen.

Sind regelmäßige Einträge - zum Beispiel auf der Facebook-Pinnwand - im Beziehungsmanagement einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für die Reichweite eines Social Media Angebotes?

Jan-Hinrik Schmidt :
Für die Angebote von Unternehmen oder Organisationen gilt dies sicherlich; da die Social-Web-Öffentlichkeiten ungeheuer dynamisch und fluide sind - Informationen werden ja nicht einmal in der Woche in einer Ausgabe von "Facebook am Sonntag" gebündelt - muss man immer wieder Kommunikationsanlässe schaffen, auch damit die eigenen Inhalte von den interessierten Nutzern kommentiert, weiter empfohlen und damit verbreitet werden können.

Sie sprechen von sozialwissenschaftlichen "Forschungslücken" in Bezug auf das Informationsmanagement. Können sie hier bitte ein konkretes Beispiel geben?

Jan-Hinrik Schmidt :
Es gibt meiner Einschätzung nach zum Beispiel immer noch keine überzeugenden Erklärungen, warum bestimmte Inhalte und Informationen "sticky" bzw. "spreadable" sind, sich also innerhalb der vernetzten Öffentlichkeiten weiter verbreiten, und andere nicht. In der klassischen Journalismusforschung hat man mit bestimmten "Nachrichtenfaktoren" oder "news values" einer Information operiert, um zu zeigen, welche Inhalte es z.B. in die Abendnachrichten oder auf Seite 1 der Tageszeitung schaffen. Für den Informationsfluss in Social Media müssen diese Modelle deutlich komplexer werden und neben den Merkmalen der Information selbst zum Beispiel auch Merkmale der jeweiligen Netzwerke einbeziehen, zum Beispiel ob und wie sie von der Peripherie zum Zentrum eines Netzwerks wandern.

Umfragen unter Studenten erbrachten einen allenfalls schwachen Zusammenhang zwischen der generellen Einstellung zur Privatsphäre und dem Ausmaß der Offenlegung persönlicher Informationen auf Facebook oder einer anderen Social Media Plattform. Gibt es eine Art von digital/analoger Schizophrenie der Digital Natives bei diesem Thema?

Jan-Hinrik Schmidt:
Das sieht von außen in der Tat so aus, ist meines Erachtens aber Ausdruck der spezifischen kommunikativen Architektur des Social Web. Als Nutzer von Facebook beispielsweise habe ich ja beständig das Gefühl, dass ich mich in meiner eigenen persönlichen Öffentlichkeit bewege.
Meine 100 oder 300 Facebook-Kontakte, die Einträge von mir liken oder kommentieren, sind mein intendiertes oder adressiertes Publikum. Dies ist also einerseits deutlich größer als in der Kneipe oder bei der Privatparty im Wohnzimmer, aber eben auch kein Massenpublikum. Tückisch daran ist, dass die Architektur von Facebook aber verbirgt, wer tatsächlich oder potentiell Einblick in diese Informationen hat - solange sich diese Personen nicht "zu Wort melden", bleiben sie für mich unsichtbar. Zudem kann ich nicht bzw. nur schwer kontrollieren, wer möglicherweise morgen oder nächstes Jahr Zugriff auf diese Informationen hat - nicht zuletzt, weil Facebook immer wieder die eigenen Strukturen umgestaltet und sehr intransparent ist, was die Verwendung der Daten angeht. So wird informationelle Selbstbestimmung ungemein erschwert.

Journalistische Online-Angebote gehören zu den meist verlinkten Seiten in der Blogosphäre und wohl auch im gesamten Web 2.0 Bereich. Ist das nicht ein Beleg dafür, dass sich User-Generated-Content im Social Media Bereich in klaren, engen Grenzen bewegt?

Jan-Hinrik Schmidt:
Zumindest ist es ein Beleg dafür, dass auch im Social Web professionell-journalistische Leistungen des Filterns, Aufbereitens und Präsentierens von gesellschaftlich relevanten Informationen nachgefragt werden. Ich würde nutzergenerierte und journalistische Inhalte auch gar nicht in Gegensatz zueinander sehen; in der Regel ergänzen sie sich und bei besonders spektakulären Vorfällen greifen journalistische Medien ja auch auf nutzergenerierte Inhalte zurück. Ein Großteil des user-generated-content - die Millionen von Urlaubsfotos und Meinungsäußerungen, Katzenvideos und Blogeinträgen - sind allerdings nur für einen jeweils sehr kleinen Teil von Nutzern relevant, nämlich in der Regel für das soziale Umfeld des jeweiligen Urhebers. Sie verbleiben in deren persönlichen Öffentlichkeiten, wo sie auch gut aufgehoben sind.

In einem Ausblick im "Twitter-Style" schreiben Sie u.a. "Das neue Netz erleichtert individuelles wie kollaboratives Informationsmanagement und schafft so neue strukturierte Wissensordnungen". Welche Auswirkungen haben dies neuen strukturierten Wissensordnungen bereits auf die analoge alte Welt?

Jan-Hinrik Schmidt :
Einige! :-) Am deutlichsten wird dies sicherlich bei der Wikipedia, die in den zehn Jahren ihres Bestehens eine Jahrhunderte alte Menschheitsutopie zwar nicht völlig verwirklicht hat, aber ihr zumindest näher gekommen ist: Das Wissen der Menschheit zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Noch dazu ist es ein Vorhaben, das anders als die anderen "big player" des Internet wie Google, Facebook, Apple oder Amazon, ohne kommerzielle Motivation und ohne Beharren auf geistigem Eigentum zustande gekommen ist. Aber auch über die Wikipedia hinaus sind im Netz viele Beispiele für neue Mechanismen des Filterns und Zuschreibens von Relevanz zu finden, die nicht mehr allein auf der professionellen Tätigkeit von Journalisten, Enzyklopädisten, Bibliothekaren oder Wissenschaftlern beruhen, sondern um partizipative und technische Elemente ergänzt werden. Dadurch ändert sich letztlich die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen.

Die Fragen an Dr. Jan-Hinrik Schmidt stellte Oliver Hein-Behrens.

 

Blog zum Buch: http://www.dasneuenetz.de/

Blog des Autors: http://www.schmidtmitdete.de/

Link zum Verlag: http://www.uvk.de/buch.asp?ISBN=9783867643436&WKorbUID=26955450&TITZIF=2597&be=&uBe

 

Das neue Netz
Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0
2., überarbeitete Auflage
2011, 230 Seiten, br., Abb.: 20 sw. 
ISBN 978-3-86764-343-6
Euro (D) 29,00 / Euro (A) 29,80 / SFr 40,90