Exklusiv-Interview: "Meines Erachtens basiert das Gesetz auf weltfremdem Aktivismus"

Interview

Große Verunsicherung herrscht aktuell in der Online-Gemeinde der Webseitenbetreiber und Blogger in Bezug auf den neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Drohen automatisch Abmahnungen ab 2011, wenn Online-Angebote sich dann noch so präsentieren wie heute? medienmilch.de interviewte dazu Thomas Schwenke, Anwalt für Onlinerecht mit langjährigem Praxisbezug als Programmierer und Community-Manager:

Herr Schwenke, am 1.1.2011 tritt der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) in Kraft. Sie sind ein Kenner der Materie. Können Sie für Themen-Neueinsteiger und Websitebetreiber in aller Kürze die wichtigsten Neuerungen nennen?  

Thomas Schwenke:
Die wesentlichste Neuregelung besteht in der Einführung von Altersstufen im §5 Abs.1 JMStV. Wo früher nur nebulös von beeinträchtigenden Angeboten für „jeweilige Altersstufe“ die Rede war, hat der Gesetzgeber nun die Altersstufen „ab 0, ab 6, ab 12, ab 16 und ab 18“ eingeführt.  

Diese Altersstufen dienen der nächsten Neuerung, der Möglichkeit Inhalte nach Altersstufen zu kennzeichnen. Früher mussten Onlineanbieter mit Hilfe von technischen (zum Beispiel Ausweisnummernkontrolle) oder zeitliche Zugangsschranken („Diese Website ist nur zwischen 22 und 6 Uhr erreichbar“) dafür sorgen, dass Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufen die beeinträchtigenden Inhalte „üblicherweise nicht wahrnehmen.“ Nunmehr können die Anbieter ihre Inhalte als für eine Altersstufe geeignet kennzeichnet (zum Beispiel „ab 16“) und können auf technische oder zeitliche Zugangsschranken verzichten.  

Diese Kennzeichnung ist wiederum die Grundlage für das eigentliche Mittel, Kinder und Jugendliche zu schützen, nämlich eine Jugendschutzsoftware, die diese Kennzeichen ausliest. Der Gesetzgeber handelt in der Vorstellung, dass Eltern, Schulen und ähnliche Einrichtungen diese Software installieren und eine entsprechende Altersstufe einstellen werden. Angebote, die gar keine Kennzeichnung haben, werden von der Software ausgesperrt.  

Eine weitere Neuerung  trifft geschäftliche Anbieter jugendbeeinträchtigender Inhalte, die einen Jugendschutzbeauftragten benötigen. Dieser muss nunmehr nebst Kontaktmöglichkeiten im Impressum genannt sein (§ 7 Abs.3 JMStV).  

Sind die Kriterien für eine zukünftige Alterskennzeichung von Online-Content nicht zu schwammig gehalten?  

Thomas Schwenke:
Das Gesetz gibt keine Kriterien vor, sondern stützt sich auf die medienpädagogischen Erfahrungen der zuständigen Stellen wie zum Beispiel des Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM). Die Anbieter können sich zum einem dem Verein (kostenpflichtig) anschließen und dessen Dienstleistungen bei der Beurteilung der Inhalte in Anspruch nehmen. Private Angebote sollen dagegen künftig die Möglichkeit erhalten unter http://altersklassifizierung.de anhand eines Fragebogens ihre Inhalte einzustufen.  

Diese beiden Möglichkeiten sollten unbedingt genutzt werden, denn anders als die eigenhändig vorgenommene Alterseinstufung, befreit deren Nutzung den Anbieter bei Fehlern von einem möglichen Bußgeld. Ob sie geschäftliche Anbieter bei Fehlern auch vor Abmahnungen schützen, ist derzeit noch unklar.  

Wo sehen sie konkret Nachbesserungsbedarf in Bezug auf das Internet?  

Thomas Schwenke:
Meines Erachtens basiert das Gesetz auf weltfremdem Aktivismus. Der Gesetzgeber war der Ansicht, dass Schulattentate, wie das von Winnenden mitunter durch den negativen Einfluss der Medien beeinflusst waren und daher der Medienschutz verbessert werden müsste. Das sollte durch die Einführung einer Jugendschutzsoftware passieren.  

Doch schon damals gab es viele Anbieter von Jugendschutzsoftware. Jedoch haben viele Eltern die Software entweder nicht installieret oder sie wurde von deren technisch besser bewanderten Kindern schlichtweg umgangen. Trotzdem vertraut der Gesetzgeber darauf, dass dies sich nun ändern wird (und wird bereits jetzt eines besseren belehrt). Ich finde das Geld für die Gesetzesreform wäre in der Unterstützung oder Zusammenarbeit mit bestehenden Jugendschutzsystemen und Aufklärung der Eltern viel besser angelegt gewesen.   Das gilt umso mehr, wenn man sich auf der anderen Seite die Nachteile für die Onlineanbieter anschaut. Sie alle müssen sich mit dem JMStV auseinandersetzen, ihre Angebote prüfen (was bei sich ständig verändernden Inhalten und Techniken eine große Last ist) und mit dem Risiko von Bußgeldern oder Abmahnungen leben.  

Ich finde das Internet bringt viele Freiheiten und natürlich auch Gefahren mit sich. Diesen kann der Gesetzgeber auf zwei Wegen begegnen. Er kann entweder versuchen auf Aufklärung und Bildung zu setzen oder versuchen mit Gesetzen die Inhalte auszusperren und letztendlich scheitern, weil seine Kontrollgewalt anders als das Internet an der staatlichen Grenze aufhört. Die letzte Konsequenz dieses Weges wäre eine Kontrolle der Inhalte im Inland (Stichwort staatliche Firewall). Das neue JMStV ist leider ein weiterer Schritt auf diesem Weg.  

Redaktionelle "etablierte Online-Medien" wie z.B. spiegel.de sollen nicht vom neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag betroffen sein bzw. es werden keine Änderungen zum jetzigen Online-Auftritt erwartet. Wird irgendwo definiert, was ein etabliertes Online-Medium ist?  

Thomas Schwenke:
Der Gesetzgeber spricht im §5 Abs.8 JMStV von Onlineangeboten, die „Nachrichtensendungen, Sendungen zum politischen Zeitgeschehen im Rundfunk und vergleichbare Angeboten“  ähneln, „es sei denn, es besteht offensichtlich kein berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Darstellung oder Berichterstattung.“ Wann eine solche Vergleichbarkeit gegeben ist und wann ein Interesse wegfällt ist nicht definiert.  

Wie auch viele andere Juristen bin ich der Meinung, dass das Privileg nicht nur großen Nachrichtenseiten, sondern auch kleineren Anbietern, die sich öffentlichkeitrelevanter Themen annehmen, zustehen muss. Dazu gehören auch kleine Blogs, die zum Beispiel über Gemeindepolitik schreiben oder zur Entwicklung der Medien Stellung nehmen.  

Doch diese Ausnahme ist kein Freifahrtsschein für alle Inhalte eines Blogs oder einer Newsseite. Es muss für jeden Inhalt einzeln überprüft werden, ob das öffentliche Interesse die potentielle Jugendgefährdung rechtfertigt. Wer zum Beispiel einen Bericht über Gewalt an Schulen mit der Abbildung eines Jugendlichen mit einem Messer bebildert, wird wohl noch durch die Ausnahme geschützt sein. Wer dagegen für denselben Bericht auf grausame Prügelvideos, in denen Blut fließt, zurückgreift, wird sich kaum auf ein öffentliches Interesse berufen können.  

Aus der Blogosphäre gibt es bereits zahlreiche Warnungen über ein Ende der jetzigen Blogkultur ab 2011. Sind private Blogger wirklich so gefährdet? Stehen unseriöse Abmahnanwälte schon in den Startlöchern?  

Thomas Schwenke:
Das Gros der privaten Blogger hat kaum etwas zu befürchten, außer der Last sich mit dem Gesetz auseinandersetzen zu müssen.  

Diejenigen, die keine jugendbeeinträchtigenden Inhalte haben können sich entscheiden, ob sie ihr Angebot klassifizieren wollen (ich nehme an, bald werden die ersten Plugins für die gängigen Blogsysteme dazu erscheinen). Wenn sie es nicht tun, werden ihre Inhalte von der Jugendschutzsoftware ausgesperrt. Sie müssen sich dann zum einem fragen, ob Jugendliche zu Ihrer Zielgruppe gehören und zum anderen bedenken, dass die Software wie oben beschrieben nur in wenigen Haushalten zum Einsatz kommt.   Diejenigen, die jugendbeeinträchtigende Inhalte im Blog haben, müssen entweder den Zugang sperren, auf die zeitlichen Schranken zurückgreifen oder die Inhalte nach Alter klassifizieren. Ein Einfaches ist es das Blog pauschal auf „ab 18“ zu setzen. Auch hier wird das wohl ohne Folgen für die Zugriffszahlen bleiben, wenn die Zielgruppe erwachsen ist. Dass dadurch viele Jugendliche, die hinter einer Jugendschutzsoftware sitzen von für sie eigentlich geeigneten Inhalten ausgesperrt werden, ist ein Nachteil dieser Methode.  

Mit Bußgeldern bei falscher Klassifizierung ist kaum zu rechnen, da diese erst dann, wenn altersklassifizierung.de nicht in Anspruch genommen wird und zudem erst in Wiederholungsfällen anfallen. Auch wer das JMStV bisher überhaupt nicht beachtet hat, blieb bisher von Bußgeldern verschont. Ob sich diese Praxis ändert ist abzuwarten.  

Problematisch wird es für Blogger, die zum Beispiel durch Banner oder Flatter-Spenden Geld einnehmen. Diese wurden bisher von Gerichten als „geschäftlich“ eingestuft, so dass sie von Mitbewerbern abgemahnt werden konnten. Auf diese sehe ich, abhängig davon, wie groß der Verstoß gegen den JMStV ist, eine Gefahr von Abmahnungen zukommen. Dies gilt auch wenn sie keinen Jugendschutzbeauftragten haben oder diesen nicht im Impressum erwähnen.    

Die Möglichkeit, sich als Webseitenbetreiber kostenpflichtig von der Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) einstufen lassen, soll pro Jahr 4.000 Euro kosten, es drohen Bußgelder bis 500.000 Euro bei Verstößen. Sind solche hohen Summen ihrer Meinung nach gerechtfertigt? Wer hat sie festgelegt?  

Thomas Schwenke:
Der Gesetzgeber legt diese Summen mit Gedanken an die größtmöglichen Verstöße fest. Dabei denkt er an große kommerzielle Plattformen wie zum Beispiel den Videodienst Sevenload. Privatpersonen dürften eher Bußgelder im zig bis hundert-Eurobereich erwarten. Ansonsten wäre das Bußgeld nicht angemessen und müsste aufgehoben werden. Wer zudem altersklassifizierung.de für die Einstufung nutzt, gegen den darf bei Fehlern kein Bußgeld verhängt werden.  

Sie sind ein Kenner der Online-Szene zu diesem Thema: Formiert sich bereits Widerstand?  

Thomas Schwenke:
Die ganze Netzgemeinschaft protestiert gegen das Gesetz und es gibt mittlerweile unzählige Bürgermeinungen oder eine Unterschriftensammlung im Internet. In die Politik werden die Proteste insbesondere von Interessensgruppen getragen, unter denen insbesondere der "Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur" (AK Zensur)“ heraus zu stellen ist.  

Wäre Ihrer Meinung nach nicht eine schnelle öffentliche Informationskampagne des Gesetzgebers bzw. der Bundesregierung sinnvoll, um hier Transparenz zu schaffen und Ängste zu bekämpfen? Ist es dafür schon zu spät?  

Thomas Schwenke:
Unsere demokratische Politik basiert auf einer vordigitalen Praxis. Dabei werden die Entscheider für eine Zeit vom Volk gewählt und scheinen sich oft von diesem bis zum nächsten Wahlkampf unabhängig zu fühlen. Das führt zu solchen Gesetzen wie dem JMStV, die im „stillen Kämmerlein“ entwickelt werden und nicht von Öffentlichkeitsarbeit, die Ängste nimmt, begleitet werden.  

Dabei wäre es dem Gesetzgeber heutzutage ein leichtes die Bürger über die aktuelle Gesetzesentwicklung zu unterrichten, deren Stimmungen und Verbesserungsvorschläge aufzunehmen sowie auf Vorbehalte aufklärend zu reagieren.  

Was sollten also kleine Websitebetreiber, insbesondere Blogger, in dieser Situation ab 1.1.2011 unbedingt beachten, um nicht sofort eventuell Probleme zu bekommen?  

Thomas Schwenke:
Sobald altersklassifizierung.de verfügbar ist, müssen sie überprüfen, ob sie jugendbeeinträchtigende Inhalte haben. Falls nein, müssen sie sich entscheiden, ob ihnen die jugendliche Zielgruppe wichtig ist und falls ja, das Angebot mit einer Klassifizierung ab „0“ versehen. Falls sie jugendbeeinträchtigende Inhalte haben, müssen sie zwischen der Klassifizierung jeweiliger Inhalte (zum Beispiel Blogartikel) oder des gesamten Angebots mit einer Altersstufe (der, des jugendbeeinträchtigendsten Inhalts) wählen. Ferner müssen auch kleine geschäftliche Websites beim Vorliegen jugendgefährdender Inhalte einen Jugendschutzbeauftragten bestellen. Weil die ganze Prüfung schwer zu überblicken ist, habe ich mit einem Kollegen einen Flow-Chart entworfen, den jeder Anbieter für sein Angebot abgehen kann.

Das E-Mail-Interview mit Thomas Schwenke führte Oliver Hein-Behrens.

 

WICHTIGES UPDATE, 15.12.2010, 17:00 Uhr:
Zahlreiche Medien berichten inzwischen, der der Staatsvertrag mit großer Wahrscheinlichkeit doch in letzter Sekunde nicht in Kraft treten wird, weil im Bundesland Nordrhein-Westfalen neben CDU, FDP und Linken jetzt auch die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen dem Vertrag nicht mehr zustimmen wollen. Nordrhein-Westfalen ist das letzte Bundesland, das den Vertrag noch ratifizieren soll. Alle anderen Länderparlamente haben bereits zugestimmt.

 

WICHTIGES UPDATE, 16.12.2010, 17:30 Uhr:
Der geplante Staatsvertrag zum Jugendschutz im Internet ist endgültig gescheitert. Der nordrhein-westfälische Landtag lehnte den Antrag zur Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV) am Donnerstag wie erwartet einstimmig ab.