Interview: Causa Guttenberg - TED- und Online-Abstimmungen dürfen nicht Entscheidungsgrundlage für die Politik werden

Interview

Nie zuvor waren die Unterschiede bei Umfragen wie im Fall Guttenberg so ausgeprägt und damit verwirrend. Die Bild-Zeitung sah die Mehrheit der Bundesbürger klar auf der Seite von zu Guttenberg, die meisten Umfragen im Internet dagegen forderten massiv seinen Rücktritt. medienmilch.de wollte wissen, woran das liegt und befragte dazu den Medien- und Marktforscher Dieter Reigber:

Herr Reigber, Sie sind Medien- und Marktforscher mit dem Spezialgebiet der Online-Marktforschung. Wieso gibt es bei den Guttenberg-Online-Umfragen so eklatant andere Ergebnisse, als bei den klassischen Umfragen via Telefon oder Fax?  

Dieter Reigber:
Die Ergebnisse der aktuellen Umfragen zur Person Herrn zu Guttenberg gründen auf unterschiedliche Auswahlverfahren (Stichproben), die schon im Ansatz nicht miteinander vergleichbar sind. Zum einen führen Medien (z.B. Bild oder Spiegel) auf ihren Homepages oder über Telefon (TED) nicht-repräsentative Abstimmungen durch, bei denen die Teilnehmer sich selbst aussuchen und unter Umständen sogar mehrfach teilnehmen. Zum anderen werden bevölkerungsrepräsentative Umfragen von anerkannten Meinungsforschungsinstituten (Infratest Dimap, Forschungsgruppe Wahlen) durchgeführt, die die zu Befragenden mittels eines ausgefeilten Stichprobenverfahrens aussuchen. Erstere liefern Stimmungsbild interessierter meinungsäußerungsbereiter Personen, mithin eine Tendenz – im vorliegenden Fall auch tendenziös. Letztere liefern ein recht genaues Abbild der deutschen Bevölkerungsmeinung, sind aber auch nur Momentaufnahmen und können durch Ereignisse schnell überholt werden.

Denn schon einen Tag nach dem Rücktritt sind die Ergebnisse der Tage zuvor relativiert. In der Sendung „hart aber fair“ befürworten nun 60 Prozent den Rücktritt; insgeheim wünschen sich 72 Prozent den Freiherrn nach einer Auszeit zurück. Das deutet daraufhin, dass noch eine breite Sympathie vorhanden ist. In unserer schnelllebigen Zeit dürfen TED- und Online-Abstimmungen dennoch nicht Entscheidungsgrundlage für die Politik werden, bloß weil noch keine repräsentativen Ergebnisse vorliegen.  

Wo liegt die Umfrage-"Wahrheit" bei den Umfragen zu Herrn zu Guttenberg? Wer hat recht?  

Dieter Reigber:
Gleich vorweg: Nahe an der Wahrheit sind die Ergebnisse der von den Meinungsforschungsinstituten durchgeführten Umfragen. Ob sie wirklich der Wahrheit entsprechen, hängt von einigen anderen Gesichtspunkten ab wie die Fragen gestellt sind, welche Antworten vorgegeben sind, die gezogene Stichprobe, die Ausschöpfung der Stichprobe, die Datengewichtung und anderes mehr.

Gehen wir mal davon aus, dass die beiden zuvor genannten Meinungsforschungsinstitute gemäß den sehr strengen Regeln der Zunft der Umfrageforschung vorgehen, dann kommen die von ihnen produzierten Ergebnisse der Wahrheit recht nahe. Die im aktuellen Fall von den Medien durchgeführten Abstimmungsverfahren über Telefon (TED) und über das Internet (Online-Voting) haben strenggenommen mit Umfragen nichts zu tun. Sie können deshalb keine Wahrheit im Sinne einer Bevölkerungsmeinung beanspruchen und selbst nicht einmal im Hinblick auf ihre Leser-/Nutzerschaft. Denn geantwortet haben ja nur am Thema interessierte und zudem meinungsäußerungsbereite Menschen, egal welche Medien sie nutzen, egal wo sie in der Welt wohnen und leben, egal wie häufig sie sich beteiligt haben.

Dies erklärt auch den Ergebnisunterschied von Telefon- und Online-Abstimmung bei BILD. Die TED-Abstimmung ist eine eintägige Momentaufnahme – ich gehe mal davon aus, dass der überwiegende Teil BILD-Leser sind. Die Online-Abstimmung auf bild.de – Sie sehen, ich vermeide den Begriff Umfrage – lief mehrere Tage und hier konnten auch viele sogenannte Nicht-Nutzer von bild.de Einfluss auf das Ergebnis nehmen. Und das haben sie mit Sicherheit getan.

Wie intransparent und gleichsam unprofessionell diese Art Erhebungen durchgeführt werden, lässt sich schon daran ablesen, dass BILD sich die Herkunft der an der Abstimmung teilnehmenden Online-User nicht erklären kann. Ist das vielleicht auch ein Grund, weshalb bild.de die Abstimmung nicht fortführte? Auf der Website von Berliner-Journalisten.com ist am 24.2. zu zum Thema Guttenberg lesen: „Die Umfragen der Medien sind natürlich nicht repräsentativ, spiegeln aber doch in gewisser Weise eine Tendenz wider.“ Welch‘ ein Unsinn. Journalisten überschätzen ihre Kompetenz mal wieder gewaltig, wenn es um fachfremde Sachverhalte handelt.  

Provokant gefragt: Kann ich mit der Wahl der Art meiner Umfrage bereits das Ergebnis beeinflussen?  

Dieter Reigber:
Aber sicher. Es gibt einige Einflussmöglichkeiten. Denken Sie doch nur einmal daran, wie eine Frage gestellt, also formuliert  wird und welche Antwortmöglichkeiten vorgegeben sind. „Einen Fragebogen zu entwickeln ist eine Wissenschaft für sich“, hat die ehrwürdige Markt- und Meinungsforscherin Professorin Elisabeth Noelle-Neumann gesagt. Heutzutage werden insbesondere in der Marktforschung Fragen formuliert, die kaum ein Verbraucher versteht, weil sie die Kenntnis von Marketingbegriffen voraussetzen.

Fragen sollten so formuliert sein, dass sie einen eher einfach strukturierten Menschen nicht überfordern und einen gebildeten Menschen nicht unterfordern. Zudem sollten Fragen keine suggestiven Elemente enthalten, nicht mehrdeutig sein oder mehrere Dimensionen, die ja unterschiedlich bewertet werden können, enthalten. Darauf wird heute bei den vielen selbstgestrickten Umfragen kaum geachtet. Was dann gemessen wird, steht in den Sternen und die Interpretation der Ergebnisse verkommt zur reinen Spekulation.

Die Qualität – lassen Sie mich das zwischendurch mal sagen –, hat bei der Fragebogenerstellung eindeutig nachgelassen. Und daran sind die Medien nicht ganz unschuldig. Soviel Aufwand Qualitätsmedien im redaktionellen Bereich darauf verwenden sich sprachlich korrekt und verständlich auszudrücken, so wenig tun sie das in ihren Umfragen, seien sie redaktioneller Art oder zur Vermarktung gedacht. Es gibt noch andere Einflussnahmen auf die Ergebnisse von Umfragen, die aber der Laie nicht sofort erkennen kann. Sie liegen im Bereich der Statistiker. Das betrifft das Vorgehen bei Auswahl der Befragten, die Ausschöpfungsquote, die eingesetzten Gewichtungsverfahren.

Seriöse Umfrageinstitute dokumentieren und veröffentlichen deshalb alle geforderten Kriterien und sorgen für transparentes Vorgehen. Umfrageinstitute unterliegen auch den Statuten der nationalen wie internationalen Berufsverbände. Medien als Veranstalter von Abstimmungen oder in Eigenregie durchgeführter Umfragen haben, was das Zustandekommen unrichtiger Ergebnisse angelangt nichts – außer der Öffentlichkeit – zu befürchten, jedenfalls werden sie nicht von Gesetzes wegen sanktioniert. Das eröffnet schon Einflussnahme auf die Durchführung von Umfragen und insbesondere auf die Ergebnisdarstellung.

Und sind wir mal ehrlich: Wir alle mögen keine widersprüchlichen Ergebnisse und Otto-Normalmensch kann damit nicht umgehen – und so mancher Redakteur eben auch nicht – und deshalb wird das Ergebnis geschönt, besser: schön geredet oder es werden widersprüchliche Teil der Umfrage verschwiegen, so dass es dem Weltbild des Journalisten bzw. der redaktionellen Linie entspricht. Wissenschaftler dagegen müssen sich stets prüfen, nicht dieser Vereinfachung zu verfallen. Für sie muss es eine Herausforderung sein, herauszufinden, warum sich Widersprüche oder Paradoxa, also scheinbare Widersprüche, ergeben. Und sie gehen diesen nach und finden in der Regel plausible Argumente.

Das können wir zuweilen in den TV-Sendungen zum Polit-Barometer (ZDF) oder DeutschlandTrend( ARD) erleben, wenn die Moderatoren Gegenteiliges offen legen und zu erklären versuchen. Solche Interpretationen kann man von Boulevard-Journalisten nicht erwarten und dem wird kein Platz in den entsprechenden Medien eingeräumt und es würde zudem von den Lesern solcher Medien kaum goutiert. Aber ich möchte hier nicht Partei ergreifen: Selbiges trifft auch auf einige andere populäre Titel der Meinungspresse und deren Online-Angebote zu.    

Wäre es nicht sinnvoll, in einem solchen Fall eine Art Mittelwert aus Online- und Offline-Umfragen zu kreieren oder gibt es das schon?  

Dieter Reigber:
Was wollen Sie damit erreichen? Aus zwei „falschen“ Ergebnissen ein gegebenenfalls noch „falscheres“ zu kreieren? (verzeihen Sie die ungeschickte Komparation.) Gibt es nicht schon genug Fälscher in diesem Kontext, sei es auf Seiten des Kritisierten als auch auf der der Kritiker bzw. Befürworter desselben? Wir wollen und suchen doch nach einem wahren Ergebnis! Und nun soll auf die Schnelle, bloß weil man sich nicht die Zeit nehmen will, auf das wahre Ergebnis zu warten, ein Mittelwert – wie auch immer ermittelt – ausgewiesen werden?

Sie sehen: Ich antworte mit vielen Gegenfragen. Schon die Vorab-Berichterstattung zur Rücktrittsfrage zu Guttenbergs in der ZDF-Sendung „heute“, zu den noch nicht vollständig ausgewerteten Interviews des Polit-Barometers mögen viele Fernsehzuschauer wohl interessiert verfolgt haben, mich dagegen hat diese Art der Datenpräsentation eher irritiert und deprimiert. Zwar wurde von der Moderatorin häufig und mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse noch nicht das Endergebnis, sondern lediglich eine Tendenz darstellen. Aber was soll das? Sind wir schon auf dem Trip uns mit unfertigen, halben Wahrheiten zu begnügen?

Was soll diese Übereilung, wenn zwei Stunden später im ZDF-heute-journal das korrekte Ergebnis vorgestellt wird? Ein Trend ist schon zu erkennen: Diese Art übereilter journalistischer Arbeitsweise wird bald „Spekulationsnachrichten“ Tür und Tor öffnen –  Emotionalisieren bis zum geht nicht mehr. Und diese Einstellung ist heute zunehmend bei den Journalisten und den in ständiger, heftiger Konkurrenz befindlichen Medienangeboten festzustellen.  

Was sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine aussagekräftige bzw. repräsentative Online-Umfrage?  

Dieter Reigber:
Einige wichtige Kriterien habe ich zu den vorangegangenen Fragen schon genannt. Repräsentative Online-Umfragen lassen sich heutzutage nur in Online-Panels realisieren, deren Teilnehmer zuvor offline rekrutiert wurden. Noch mangelt es an der technischen Reichweite des Internets und bestimmte Bevölkerungskreise werden nicht bzw. kaum erreicht, um ein Online-Panel oder eine Umfrageplattform unter den Online-Nutzern selbst zu errichten. Auf die Diskussion über Begriffe wie „quasi-repräsentativ“ oder die generelle Infragestellung von Repräsentativität in der Umfrageforschung sollte man sich nicht einlassen.  

Welche aktuelle Online-Umfrage ist Ihrer Meinung nach aktuell am seriösesten beim Thema zu Guttenberg und warum?  

Dieter Reigber:
Ehrlich gesagt keine. Denn was im Zusammenhang mit dem Fall zu Guttenberg umgangssprachlich als Online-Umfrage deklariert wird, ist ein Abstimmungsverfahren unter Nutzern des jeweiligen Online-Angebots. Eine Online-Umfrage, die den Namen verdient und die Einstellungen repräsentativ unter den Online-Nutzern ermittelt, kenne ich zum Thema zu Guttenberg nicht. Beim Googlen habe ich keine veröffentlichte Studie finden können.

Wenn es eine Online-Umfrage gibt, dann würde sie in einem der seriösen Online-Panel durchgeführt worden sein, vorausgesetzt die Teilnehmer des Online-Panels sind mit den klassischen Marktforschungsmethoden, also offline rekrutiert. Solche Online-Panel gibt es nur wenige. Und selbst die werden kaum initiativ bzw. werden für Meinungsumfragen nicht beauftragt. Die Gefahr, sich mit den Ergebnissen von klassisch operierenden Meinungsforschungsinstituten vergleichen zu müssen, birgt zudem einige Risiken. Wir kennen das ja von den Wahlprognosen. Da entsteht ein regelrechter Wettbewerb, wer näher am Wahlergebnis ist.

Wollte man also eine Online-Meinungsumfrage durchführen, würde unter den Online-Panelisten eine Stichprobe gezogen, um die internetnutzende Bevölkerung in Deutschland abzubilden. Das könnten Forschungsgruppe Wahlen (ZDF) oder Infratest Dimap (ARD) vergleichend auch tun. Denn sie fragen in ihren Telefonumfragen nach der Internetnutzung und könnten für diese Zielgruppe Ergebnisse zum Thema zu Guttenberg ausweisen. Von der internetnutzenden Bevölkerung auf die Gesamtbevölkerung zu schließen, bedarf es ausgefeilter Gewichtungsverfahren. Dabei kommt der Statistiker wieder zum Einsatz.

Die zurzeit operierenden Online-Panelanbieter führen weniger Meinungsumfragen als vielmehr für das Marketing relevante Erhebungen durch. Das bringt mehr Geld. Und hier genügen zumeist Tendenzen und grobe Hochrechnungen. Zumal von der Marktforschung generell mehr und mehr Momentaufnahmen gefragt werden (Stichwort: Quartalsberichterstattung) statt nachhaltiger Ergebnisse, mit denen sich Prognosen erstellen lassen. Anders gewendet: Welche Online-Erhebungen sind am unseriösesten? (Schon wieder ein missglückter Superlativ.) Abstimmungen per Klick wie derzeit auf Facebook. Hinter einem Klick steht keine echte Meinung, für die man eintreten würde, wenn‘s hart auf hart kommt.

Es kommt mir vor wie eine Spielerei oder Inszenierung von situativ bedingten emotionalen Schüben ohne Realitätsbezug und ohne Abwägung des Sachverhalts. So kann Demokratie nicht funktionieren. Erst wenn die „Klicker“ haufenweise auf die Straße gehen für ihre Überzeugung, bekäme eine solche Facebook-Abstimmung Gewicht. Der Fall Guttenberg ist mit den Aufständen in Nordafrika nicht zu vergleichen. Das verkennt die Facebook-Gemeinde offensichtlich.  

Welchen Stellenwert hat die Online-Umfrage heute und in naher Zukunft?  

Dieter Reigber:
Die Bedeutung online-durchgeführter Erhebungen nimmt zu. Das gilt heute für die Bereiche der Marktforschung, wo es auf Repräsentativität nicht so genau ankommt. Noch nicht in naher Zukunft aber mittelfristig müsste die technische Reichweite des Internets weiter zunehmen, um anderen Erhebungsverfahren echte Konkurrenz zu machen. Ein Online-Panel zu errichten und zu betreiben, das die Internetnutzer repräsentiert, ist kostenaufwändig; jedenfalls aufwändiger als derzeit zufallsgesteuert Telefonumfragen in der deutschen Bevölkerung durchzuführen.

Langfristig nehmen die klassischen Erhebungsverfahren an Bedeutung ab. Das gilt für das persönlich durchgeführte Interview, selbst unter Einsatz eines Laptops (CAPI)  als auch für das konventionelle Telefoninterview (CATI). Schon heute sinken die Ausschöpfungsquoten. Das für die Repräsentativität der Ergebnisse erforderliches Niveau darf aber nicht unterschritten werden.

Ist die Grundgesamtheit der deutschen Wohnbevölkerung theoretisch für face-to-face durchgeführte Befragungen erreichbar, so verringert sich derzeit der Anteil der Bevölkerung mit Telefon-Festnetzanschluss. Das bedeutet, dass bei Telefonumfragen noch stärker und noch höhere Gewichtungsfaktoren eingesetzt werden müssen als bisher. Die ausschließliche Handy-Nutzung hat zugenommen; hier liegen aber genau Daten zur Grundgesamtheit vor.

Worauf kommt es an: Letztlich gilt es den in Mecklenburg-Vorpommern, in einer 500-Seelengemeinde wohnenden 50-jährigen Arbeiter mit Volksschulbildung genauso gut zu erreichen wie die 30jährige studierte Hamburgerin. Für beide Bevölkerungsgruppen dürfte es schwierig werden, sie mit dem einen oder dem anderen Erhebungsverfahren in meine Stichprobe zu bekommen. Dementsprechend müssen diese Bevölkerungsgruppen, wenn sie denn in der Stichprobe für eine Online-Umfrage enthalten sind ein höheres oder ein niedrigeres Personengewicht erhalten.    

Wie sieht für Sie die Meinungsforschung im Jahre 2040 aus? Gibt es dann überhaupt noch klassische Interviews und Telefonumfragen?  

Dieter Reigber:
Ich gehe mal davon aus, dass ein Mensch in 2040 gleichsam ständig vernetzt und online ist. Das heißt aber nicht, dass er für andere Menschen oder auch für die Durchführung von Umfragen persönlich immer erreichbar ist. Das Stichwort heißt agentenbasierte Markt- und Meinungsforschung. (Gemeinsam mit Jochen Spöhrer habe ich hierzu mal einen Aufsatz in dem 2001 herausgegebenen Reader Online-Marktforschung veröffentlicht.)  Online-Panelanbieter stellen eine Plattform zur Verfügung, die auf einer Agententechnologie basiert. Ich als Online-Panelist kreiere und nutze meinen Agenten, der gleichsam mein Alter Ego ist. Der Agent ist dialogfähig und ich muss viel mit ihm kommunizieren. Ich muss ihm vertrauen und er mir. Er ist mein Diener oder besser „Butler“ gegenüber dem Internet. Er organisiert mich und liest mir meine Wünsche „von den Lippen“ ab. Er führt mir Angebote zu, die ihn (eigentlich mich) interessieren und hält Informationen fern, die er für irrelevant und bedeutungslos hält. Der Agent nimmt die Funktion des Gatekeepers zwischen mich und Internet ein. Er kennt mich in und auswendig und er kann deshalb auch pro-aktiv und weitgehend autonom handeln. Und er gibt über mich nur Informationen preis, die ich selbst bereit bin zu geben. Wenn dem so ist, liegt der Nutzwert für die Markt- und Meinungsforschung auf der Hand. Findet sich ein Weg den Agenten anzusprechen und die von mir hinterlegten Informationen abzurufen, so lassen sich valide Aussagen über mich treffen, ohne dass ich direkt angesprochen werden muss. Ist mein Agent Teilnehmer eines Online-Panels, das die Grundgesamtheit der deutschen Bevölkerung abbildet, so lassen sich Informationen gewinnen, die für die Gesamtgesellschaft repräsentativ sind. Werden in einer Umfrage Fragen gestellt, mit denen ich mich bzw. ich meinen Agenten noch nicht befasst habe, so wird mich mein Agent mich gezielt fragen; auch was davon unser Geheimnis bleiben soll und was wir beide bereit sind anderen mitzuteilen. Da mein Agent geschützt ist gegenüber jeden Zugriff von außen (auch gegenüber meinen Freunden und Bekannten) und eben nicht mein Tun und Lassen jedem Preis gibt, sondern erst auf gezielte Anfrage, wird er einst Facebook und Konsorten überflüssig machen. Was für eine Zukunft! Da stellt sich die Frage nach dem Überleben klassischer Umfrageverfahren nicht mehr.    

Das Interview mit Dieter Reigber führte Oliver Hein-Behrens.    

Dieter Reigber, freiberuflich tätiger Markt- und Medienforscher in Hamburg, studierte Publizistik, Politik und Öffentliches Recht in Mainz. Elisabeth Noelle-Neumann holte ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter ins Institut für Demoskopie Allensbach. Als Studienleiter in der Burda Medienforschung griff er Konzepte der akademischen Forschung auf und entwickelte daraus Zielgruppenmodelle für marketingrelevante Studien: Frauen-Welten. Marketing in der postmodernen Gesellschaft; Social Networks; Glück im Garten - Erfolg im Markt; Sprache in der Food-Werbung; Communication Networks. Für den Launch von FOCUS entwickelte er die Zielgruppe der Info-Elite. Als Leiter Mediaforschung bei Interactive Media, Axel Springer Verlag, entwickelte er ein Mediaplanungsinstrument für die Vermarktung von Teletext und war für den Aufbau der Online-Marktforschung zuständig. 2000/01 Geschäftsführer von PopNet Research. Seit 2002 freiberuflich tätig: Media Research & Consulting.