Glosse vom Tatort: Sonntagabend kann ich leider nicht! (exklusiv)

Glosse

Gehen Sie doch mal zu Wiktionary, dem Wiki-basierten Online-Wörterbuch. Da finden Sie unter dem Eintrag "Sonntagabend" als erstes Beispiel "Sonntagabend wird der Krimi in der ARD geguckt." So geht das nicht weiter!

8,53 Millionen Zuschauer ab drei (!) Jahren (Marktanteil: 23,8 Prozent) versammeln sich im Schnitt zum ARD-Tatort vor dem Fernseher, um dort etwas TV-Kriminalität in ihr sonst so geregeltes Leben zu bringen. Wie eine media control Sonderstudie ergab, sind das die höchsten Jahresdurchschnittswerte seit 1995.

Obwohl der durchschnittliche "Tatort"-Fan 56 Jahre alt ist und am liebsten den Münsteraner Ermittlern Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) und Frank Thiel (Axel Prahl) bei der Arbeit zuschaut, geht die Tatort-Abhängigkeit querbeet durch alle Bevölkerungsschichten und -arten: Linke, Rechte, Grüne, Liberale - immer mehr brauchen ihren Kriminalfall, um vor dem üblichen Start in die Berufswoche noch einen Kick Extraordinarität abzuholen und in der Montagskaffeepause mitreden zu können.

Termine für Skat-Abende, Kino, Theater oder Literaturzirkel am Sonntagabend? Wie unprofessionell! Maximal gehen wir in eine der immer zahlreicheren Kneipen, die den Trend erkannt haben und "Tatort live" für ihre Kunden bringen, ganz so wie ein Fußballländerspiel.

Die Dominanz und der Erfolg dieses inzwischen 40 Jahre alten Sendeformats ist wirklich erschreckend. Ist es der sonst so langweilige Sonntagabend, der all diese Menschen Tatort-abhängig werden lässt? Ist es die durch die Konformität fortschreitende Deprivation der Gesellschaft, die einen manifesten Herdentrieb etabliert ("die schauen das schließlich alle auch")? Oder sogar etwa der unterbewusste Wunsch nach dem temporärem Ausbruch am Sonntagabend aus der geordneten Bürgerlichkeit? Man weiß es nicht! Und ein Kommissar, der diesen Erfolgsfall löst, ist auch noch nicht gefunden.

Oliver Hein-Behrens