Buchkritik: Das historisch-heterogene Geflecht Osmanisches Reich, Atatürk und Erdoğan

Kommentar

­In Kooperation mit der Deutschen Verlags-Anstalt ist das neue Buch "Krisenstaat Türkei. Erdoğan und das Ende der Demokratie am Bosporus" des Spiegel-Korrespondenten Hasnain Kazim erschienen. Es gutes Sachbuch, wenn man in das Thema tiefer einsteigen will.

­­­Der Autor Hasnain Kazim, 1974 als Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer in Oldenburg geboren, schreibt seit 2004 für den Spiegel. Von 2013 bis 2016 berichtete er aus Istanbul. Nachdem er die Türkei im Frühjahr 2016 unfreiwillig verlassen musste, weil ihm eine Anklage wegen der "Unterstützung einer terroristischen Organisation" drohte, ist er heute Korrespondent in Wien.

Kazim beschreibt ohne erhobenen Zeigerfinger, warum Präsident Erdoğan bei einem Großteil der türkischen Bevölkerung so angesehen ist: Er verbesserte demnach die Infrastruktur, baute Schulen und Moscheen und sorgte bei vielen Türken für mehr Selbstbewusstsein. 1994 wurde er mit 40 Jahren der erste islamische Oberbürgermeister von Istanbul. Damit war er für viele der Beweis, dass "ein frommer Muslim" politisch erfolgreich sein konnte.

1998 wurde Erdoğan laut Kazim wegen Anstachelung zu religiösen Aufstand angeklagt und zu 10 Monaten Freiheitsstrafe sowie einem lebenslangen Politikverbot verurteilt. "Wenn man so will, brachte ihn das Gefängnis zu der Erkenntnis, dass der Islam mit der Demokratie kompatibel sein könnte", schreibt der Autor zu dieser Zeit für Erdoğan.

Mit dem Referendum vom April 2017 scheint die Hoffnung aber inzwischen aus europäischer Sicht geschwunden, dass das Land am Bosporus Islam und Demokratie tatsächlich vereinen, gar Vorbild für die gesamte Region sein kann. Heute sieht sich die Türkei vor allem von inneren und äußeren Feinden bedroht. Erdoğan lässt Andersgläubige und Andersdenkende verfolgen. Immer häufiger provoziert er Konflikte mit Nachbarn und außenpolitischen Partnern, nicht zuletzt mit Deutschland.

Hasnain Kazim beschreibt aus persönlicher Sicht faktenreich, wie sich die Türkei in diesen vergangenen Jahren radikalisierte. Er zeigt, wie explosiv die Situation im Land ist und wie zerrissen viele Türken selbst sein müssen im ihrem historisch-heterogenen Geflecht Osmanisches Reich, Atatürk und Erdoğan.

Ein wichtiges Buch für alle, die sich über die Tagespresse hinaus informieren wollen.

"Krisenstaat Türkei. Erdoğan und das Ende der Demokratie am Bosporus" von Hasnain Kazim. 250 Seiten, ISBN 978-3-421-04784-7, Deutsche Verlags-Anstalt, Ladenpreis 20 Euro. Das E-Book ist für 15,99 Euro erhältlich.