Kommentar: Das Internet als Newsquelle Nr. 1 bei politischen Themen

Kommentar

BBC fragte am Tag der Flucht des tunesischen Diktators Ben Ali am 14.1.2011 nicht nur einmal seine zahlreichen Interviewpartner, welche Rolle das Internet bei diesem Umsturz gespielt habe? Die Antwort war einheitlich: Internet und insbesondere Social Media hätten eine bedeutende Rolle bei dieser tunesischen Revolution gehabt!

Blogs wie „A Tunesian Girl“ waren tagelang für interessierte Menschen aus der ganzen Welt die einzigen aktuellen und auch ungeschminkten Nachrichtenquellen. Von Tunesiern mit ihren Handys aufgenommene und bei Youtube zahlreich eingestellte Videos zeigten häufig die volle Brutalität der Ben Ali Schergen in Bezug auf die Demonstranten. Bilder, die die Tagesschau so unmöglich hätte bringen können, selbst wenn sie sie gekannt hätten - zu brutal. Die ganze Welt konnte es sehen: Hier wurde tunesischen Menschen Unrecht angetan!

Internet-Protestgruppen wie “Anonymous” schalteten sich ein: Bereits am 6.1.2011 gaben sie eine Presseerklärung per Youtube heraus, in der sie schilderten, warum sie Webseiten der tunesischen Regierung angegriffen hatten: Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit für Tunesien. Volle Solidarität mit den Tunesiern. Das demokratische Internet, zumindest der politisch interessierte Teil der schweigenden Online-Mehrheit, unterstütze die demonstrierenden Menschen in Tunesien mit einem Vorlauf gegenüber den etablierten Mainstream-Medien von fast zwei bis drei Wochen. Dies war zweifellos eine mächtige moralische Unterstützung vor Ort, die wohl so auch in Tunesien rückblickend gesehen wird.

In Deutschland schaffte es die Berichterstattung über die historische Entwicklung in Tunesien - bis auf wenige Ausnahmen - aber erst einen Tag vor der Flucht von Ben Ali auf die Titelseiten von etablierten Print-Medien. Einige Privat-TV-Sender berichteten selbst nach dem Umsturz in ihren News noch in oberflächlichen Schlagzeilen wie „Chaos in Tunesien!“ ihre Zuschauer, ohne eine echte Zeile Hintergrundinformation zu geben. Dies war sehr spät, journalistisch gesehen zu spät - und häufig schlecht recherchiert!

Welche Effekte das haben kann? Britische Medien hatten schon wesentlich früher die Relevanz der Entwicklung in Tunesien erkannt. Mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel britische Reiseveranstalter bereits sehr früh begannen, ihre Touristen aus Tunesien abzuholen, noch bevor der Luftraum geschlossen wurde. Wie viele von den geschätzten deutschen 5000 Touristen noch in Tunesien sind, ist dagegen nicht zweifelsfrei bekannt - aber es sind bestimmt nicht alle.

In Bezug auf das Informationsverhalten bei wichtigen internationalen politischen Entwicklungen könnte Tunesien also eine Zäsur darstellen, wenn es den klassischen Print-, TV- und Hörfunk-Medien nicht schnell gelingt, trotz Einsparungen, Zentralredaktion und Quote wieder mehr Aktualität und Qualität in ihre Auslandsberichterstattung zu bringen. Newsquelle Nr. 1 war das Internet bei Tunesien auf alle Fälle. Das war aber auch nicht schwer: Es gab lange Zeit gar keine "Konkurrenz".

Oliver Hein-Behrens