Rolf Hochhuth: Was geht ausgerechnet Deutsche die Krim an?

Kommentar

Der bekannte deutsche Dramatiker Rolf Hochhuth ist Gastautor dieses Kommentars bei medienmilch.de. Hochhuth bezieht darin Stellung zu der aktuellen politischen Entwicklung in der Ukraine.

Was geht ausgerechnet Deutsche die Krim an? oder: Als würde Kalifornien dem Warschauer Pakt beitreten - genauso m u s s auf Russland die Einladung des Westens an die Ukraine wirken, der EU, ja sogar der NATO beizutreten. Das wird westlich der Weichsel so ungern gehört, wie es unerfreulich wahr ist!

Dass ausgerechnet Deutschland sich seit Beginn der 90er Jahre von den USA vorspannen lässt bei deren Bemühen, ihre Einflussmacht sogar bis zur Trennung der Moskau-Russen von denen der Kiew-Russen zu treiben, ist insofern unentschuldbar, als bekanntlich wir Deutschen es gewesen sind, die sich von ihrem Braunauer und späteren Auschwitzer zum Amoklauf nach Stalingrad haben benutzen lassen. Wobei man ehrlicherweise hinzufügen sollte - ich war erst zehn, als der begann, konnte aber die Generation meiner Eltern schon ziemlich genau beobachten -, dass es keinesfalls Hitler a l l e i n war, der allen Ernstes geglaubt hat, mit einem noch völlig ungeschlagenen Großbritannien samt seinem Churchill im Rücken, es könne glücken, Russland zu besiegen: Wir können uns heute keine Vorstellung mehr davon machen, die Jahrgänger meiner Kinder und Enkel schon gar nicht mehr, wie der "Siegeszug" über Frankreich in nur 6 Wochen, als den nicht nur Goebbels ihn gefeiert hat, die ganze Nation um Maß und Verstand gebracht hatte!
Das ist mit uns Deutschen besonders leicht anzustellen: "Kein Augenmaß", urteilte hellsichtig Bismarck über den Twen Wilhelm der Letzte, der ihn drei Wochen vor seinem 75. Geburtstag hinauswarf. Viele Deutsche leben mit diesem Mangel:

Hitlers Stabschef Halder, der im Vorjahr binnen sechs Wochen, ab 10. Mai bis Mitte Juni, durch Frankreich bis zur Kanalküste gepanzert war, schrieb 14 Tage nach Beginn von Hitlers Überfall auf seinen getreuen Rohstoff-Lieferanten Stalin, es sei nicht zu viel gesagt, stelle man fest, daß "der russische Feldzug in drei Wochen gewonnen" worden sei: So hatte der deutsche Generalstab auch nicht für nötig gehalten, den Soldaten Handschuhe nach Russland mitzugeben ...

Nur an solchen Einzelheiten, die in psychiatrische Krankenblätter gehören, ist heute noch annähernd abzulesen - die so sich nennenden Historiker halten es meist für unter ihrer Würde, derartige Albernheiten zu berichten - wie Deutsche nicht ausnahmsweise, sondern m e i s t die Russen unterschätzt haben! Mit zwei Ausnahmen: Friedrich der Große und Bismarck.
Der König, in seinem Testament, hat allen Nachfolgern v e r b o t e n, mit den "Barbaren im Osten" Händel anzufangen, da man ihnen "den Schaden, den die einem zufügen können, niemals heimzahlen kann"!
Und Bismarck - "ich habe in das Auge des Bären gesehen" sagte er, einst Botschafter in Petersburg, noch angstvoll im Alter -, konnte erst ruhig schlafen, als er seinen "Geheimen Rückversicherungs-Vertrag mit Petersburg" schriftlich hatte: Die beiderseitige Garantie, ihre Staaten blieben "wohlwollend neutral", werde einer von ihnen in Konflikt mit einer Großmacht verwickelt. Doch der Kaiser lehnte wenige Wochen nach Bismarcks Sturz ab - diesen Vertrag zu verlängern, mit dem kleinstkariert-idiotischen "Argument", das Geheimrat Holstein ihm eingeredet hatte: Der Vertrag sei amoralisch, nämlich Ehebruch, Bigamie - da er vor Wien geheim gehalten werden musste ...

Um von unserem Klassiker der Politik noch eine leider verschollene Maxime hervorzuholen, denn die kann man nicht oft genug zitieren: Als Bismarck hörte, der Nachfolger Moltkes im Generalstab, Waldersee - habe Planspiele angeordnet, zu einem eventuellen Krieg gegen Russland, hat er sie, "solange ich amtierender Ministerpräsident bin" v e r b o t e n, mit der Begründung, das Reich könne "selbst im unwahrscheinlichen Falle des Gelingens, einen Feldzug gegen Russland immer nur v o r sich - doch n i e m a l s hinter sich haben".

Widerlich, dass dies gegenüber Deutschen eigens angeordnet werden musste! Man glaubt dies alles nicht mehr, so albern-verjährt ist das heute! Doch durchaus g e b l i e b e n ist die deutsche Instinktlosigkeit, den USA zu parieren, wenn die i h r e Interessen vertreten, die niemals die u n s e r e n sein können. Einfach deshalb nicht, weil die Russen u n s e r e allernächsten Nachbarn sind, nicht aber die Amerikas. Und weil nicht USA-Truppen vor 70 Jahren zur Krim stiefelten, sondern deutsche. Stalin sagte damals trostlos zu Churchill, weil die Invasion der Briten und Amerikaner in Frankreich d r e i (!) Jahre auf sich warten ließ "Die Rote Armee verliert am Tag 10.000 Mann!"

Ein Beispiel noch, fast schon überflüssig: Welcher Deutsche hätte welches "Recht", sich einzumischen, wenn Herr Putin darauf besteht, Russlands einziger e i s f r e i e r Hafen - bevor Stalin, nach Ende des Hitlerkrieges, Königsberg behielt -, müsse weiterhin Russland gehören wie seit Jahrhunderten? Man frage sich: Wie würden die Russen Herrn Putin aburteilen, wenn er die Krim der Ukraine überließe - ausgerechnet in d e m Moment, in dem die Ukrainer sich bemühen, ebenso in die NATO aufgenommen zu werden wie schon das Baltikum! Würde Putin nicht geradezu die Sicherheit Russlands aufs Spiel setzen? Denn die Krim hat ja erst der Ukrainer Chruschtschow der Ukraine vor 60 Jahren zugeschlagen! Groteske Pointe: Eine D e u t s c h e war es, Sophie von Anhalt-Zerbst, später von den Russen als ihre Katharina die Große vergöttert - und so heißt sie noch heute dort -, die der damals unerträglichen Großmacht Türkei die Krim abgekämpft hatte.

Übrigens sind diese ganzen zum Konflikt aufgebauschten Stänkereien nichts als das Ergebnis von immer glück-verdummender Problemlosigkeit, die ziemlich oft schon zu Kriegen geführt hat, nach der Erfahrung von Shakespeare, der in seinem Drama über den Trojanischen Krieg schreibt: "Allzu langer Friede reizet zum Streit." Denn in beiden Weltkriegen empfanden Russen und Ukrainer sich als das, was sie seit 1000 Jahren sind, als Brudervölker, die ihr gemeinsames Vaterland gegen Deutsche, Österreicher und Türken verteidigten.

Helmut Schmidt, noch mit 94 der klügste BRD-Politiker, hat durchschaut, was in Wahrheit gespielt wird: Nicht um die Krim geht es momentan, diese Insel ist nur der sichtbarste Ausdruck dessen, was seit Jahrzehnten von der Westeuropäischen Vormundschaftsbehörde P e n t a g o n angezielt wird: "Die Idee, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, stammt aus den USA. Nach den Reden einiger amerikanischer Zeitungen sind dafür menschenrechtliche Gesichtspunkte ausschlaggebend ... aber es sind imperiale Motive, die dahinterstehen. Wir Deutschen haben angesichts unserer Geschichte im 20. Jahrhundert gute Gründe, mit eigener Beteiligung an militärischen Interventionen zurückhaltend zu sein. Bisweilen hört man, wir müssten uns aus Solidarität im NATO-Bündnis an militärischen Interventionen beteiligen. Das Argument passt besser in die Nibelungensage als in die heutige Wirklichkeit. Denn das nordatlantische Bündnis war und ist ein Verteidigungsbündnis, nicht etwa ein Bündnis zur Umgestaltung der Welt."

Genau - denn nichts war bekanntlich für Deutschland verhängnisvoller als unser Größenwahn, dem Kontinent "eine neue Ordnung" aufzwingen zu wollen - was unter Hitler militärisch durchgesetzt werden sollte, das hat heute wirtschaftliche Vorzeichen unter der Fahne Brüssels und des Euro!
Warum wird uns in Deutschland nie problematisch - nur ein Beispiel -, dass die zwei intelligenten Völker des Westens: Die Schweizer, die nie eine Geldreform nötig hatten, die Briten, die nie einen Krieg verloren haben - bei Franken und Pfund blieben, statt sich wie wir dem Euro zu unterwerfen, der schon jetzt dazu geführt hat, daß jeder Grieche bisher 22.000 Euro von den übrigen Mitläufern dieser Währung geschenkt bekam, obgleich die Verfassung der EU ausdrücklich v e r b i e t e t, dass andere Nationen den Athener Betrugs-Bankrott abfangen!
Dies ist keine Abschweifung, sondern zeigt nur die Absurdität und Anmaßung des Westens, uns den Russen als Schulmeister für die Gestaltung ihres Riesenreiches aufnötigen zu wollen - und keinesfalls nur wirtschaftlich, sondern, und das ist lebensgefährlich, vom Vertragsbruch abgesehen, auch militärisch: Seit nämlich sogar das Baltikum der NATO einverleibt wurde - was schon für jeden Zaren Grund genug gewesen wäre, einen Präventiv-Krieg auszulösen.
Bismarck würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was Europäer sich hier von den Amerikanern aufbürden lassen.
Doch die USA können trotzdem ruhig schlafen: Sie wissen ja, was wir Europäer, mit denen sie seit dem Kalten Krieg Blinde Kuh spielen, erst vor einigen Jahren erfahren haben. Und was sie sogar dem allertreuesten ihrer Partner: Konrad Adenauer stets verschwiegen haben: Daß Kreml und Weißes Haus seit den 1950er Jahren ein Geheimabkommen haben, das 1972 von Kissinger und Breschnew erneuert wurde, demzufolge, sollte doch der Kalte Krieg in einen Heißen ausarten, garantiert in Russland und Amerika keine Fensterscheibe kaputtgeht, sondern "lediglich" Polen und Germany weggemacht werden: Der ungeheuerlichste Verrat an einem Verbündeten, von dem je erfahren hat, wer noch Geschichte liest ...

Doch verraten - man hüte sich vor jedem, der einem dankbar sein muss - haben vor allem wir Deutschen wieder einmal die Russen!

So musste Herr Gorbatschow gegenüber dem BILD-Redakteur Kai Diekmann resümieren, und damit ist hier hoffentlich genug gesagt, was uns Deutsche endlich zur kritischen Selbstbefragung hinsichtlich unserer noch andauernden Betrugspolitik gegen Russland anregen sollte! Gorbatschow: "Kohl, US-Außenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass die Nato sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat. Was hat es gebracht? Nur, dass die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen." Kanzler Kohl hatte sein Versprechen an Herrn Gorbatschow sogar unter Zeugen mit "Ehrenwort" bekräftigt.

Rolf Hochhuth