Das "Relotius-Dilemma": Trägt Google eine Mitschuld?

Kommentar

Eine gute Story bedeutet: Keiner vor dir hatte sie, Google merkt das und du erzählst sie wie ein Geschichtenweltmeister. Ganz nach dem Motto: Jeder Satz ein Treffer!

"Wenn wir uns die journalistische Grundform Reportage anschauen, kommen wir an den prämierten Reportagen von Claas Relotius nicht vorbei. Nehmen Sie sich Zeit und lesen Sie sie. Sie haben einen Benchmark-Charakter für zukünftige Arbeiten in diesem Bereich" - das in etwa waren meine Worte als Dozent in den letzten Jahren an den Crossmedia-Nachwuchs. Alles hatte bei Relotius gepasst oder wie inzwischen zahlreiche Journalismus-Profis sagen: Es war einfach zu perfekt!

Und hier liegt das "Relotius-Dilemma". Auf der einen Seite fordern Dozenten wie wir - immer nah am vermeintlichen "Benchmark" - die perfekte Story. Auf der anderen Seite gibt es in der realen Welt nicht die perfekte Story, weil die Welt selber nicht perfekt ist.

Das Internet hat alles verändert im Journalismus - von der Recherche bis zum Stil des Schreibens. Alles ist schnelllebiger, kürzer und Google-affiner geworden. Jede Journalistin und jeder Journalist kam irgendwann bereits an den Punkt, enttäuscht zu sein über die Online-Resonanz zum mit viel Aufwand erstellten Content. Der Hauptgrund: Die Headline tauchte weder auf Seite 1, 2 oder 3 der Google (News) Suchergebnisse auf. Was das bedeutet? Ganz einfach: Nichtexistenz, unabhängig vom Einsatz. Wenn ich dann sehe (bzw. fairerweise sah, denn Google hat hier wohl ein wenig reagiert), dass sogenannte Clickbaits, also Headlines, bei denen Schlagzeilen der BILD-Zeitung geradezu zahm wirken, extrem von Google mit der Positionierung und den damit verbundenen Visits belohnt werden, weiß ich, wohin die Reise geht: Ins Land des perfekten, so noch nie dagewesenen und eigentlich auch unrealistischen Storytellings.

Relotius hat diesen "Me first-Storyytellingwahn" scheinbar perfekt bedient. Aber eben aus journalistischer Sicht "illegal", denn Normalitätslücken konnte er scheinbar nur mit seiner zweifellos begnadeten Fantasie füllen. Ist jeder ein Opfer seiner Umstände? Ganz sicher nicht! Scheint Relotius ein talentierter Getriebener zu sein, der die teilweise absurd hohen Ansprüche des digitalen Storytelling-Journalismus nicht mehr so bedienen konnte, wie es handwerklich vorgeschrieben ist? Scheinbar ja. Fanden das die meisten - nicht nur beim Spiegel - lange Zeit so toll, dass sie die manchmal unglaublich "perfekten" Storys vielleicht nicht genügend hinterfragten?

ohb